Bürgergeld statt Hartz IV
Jüngst gab es wieder eine dieser Diskussionen im Freundeskreis über die Frage, ob es verhältnismäßig ist, den Sozialstaat zu schrumpfen. Wobei alle Anwesenden das Gefühl teilten, dass im wohlhabenden Kronberg einigermaßen komfortabel diskutieren lässt über die wachsende Armut der unteren Gesellschaftsschichten.
Die Bundesregierung hat zum 1. Januar 2023 die Grundsicherung Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzt. Eine Kindergrundsicherung soll in der Hoffnung folgen, ein nachhaltiges Sozialsystem zu schaffen. Ein Argument in der Debatte klag eher pragmatisch und weniger humanistisch. Eine derartige Umorientierung koste kaum mehr Geld, aber zahle sich letztlich für die Gemeinschaft aus. Angesichts des Haushaltsdefizits nicht Mäßigung nur ein Gebot der Stunde, sondern auch der Klugheit. Dieses Argument unterstellt eine Art historischer Zwangsläufigkeit. So als ob der Bundesregierung gar keine andere Wahl bleibe, als zu sparen. Unterschlagen wird dabei, dass historische Prozesse nicht alternativlos sind. Im Nachhinein mag das so aussehen, weil es in der Geschichte für das Kontrafaktische keine Kontrollgruppe gibt. Aber es gibt keinen Determinismus.
Machen wir es konkret: Die Bundesregierung gibt viel zu wenig Geld für den Sozialstaat aus. Der Eindruck, die Produktivitätsgewinne werden sinnvoll genutzt, ist falsch oder zumindest grob unvollständig. Der Sozialstaat ist seit Jahrzehnten geschrumpft worden. Das Argument: Leistung muss sich lohnen. Angeblich schadet auch das Bürgergeld der Arbeitsmotivation. Eine neue Studie des ifo-Instituts hat mir die Augen geöffnet. Danach hat die Bundesregierung trotz Mindestlohn und Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze den Lohnabstand zwischen Sozialeinkommen und Geringverdienenden vergrößert und nicht vermindert. Dies ist ein Grund, warum die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht.
Noch einmal: Es gibt genügend Gründe, die gegen ein Spardiktat sprechen. Einer: Die Armutsrisiken steigen. Ein zweiter: Arme Menschen sind häufiger krank und sterben früher. Ein dritter: Arme kommen immer seltener aus der Armutsfalle heraus. Zwei von drei Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Es ist eben einfacher, den Rotstift anzusetzen, als den Sozialstaat umzubauen. Die sozialen Kosten einer rigiden Sparpolitik sind mehr als Peanuts. Das Bürgergeld würde 4,8 Steuermilliarden mehr kosten als Hartz IV. Vor Covid und dem Ukraine-Krieg kostete die Grundsicherung rund 50 Milliarden. Trotz dieser hohen Summe ist die Armutsquote jährlich gestiegen und liegt mittlerweile bei 16,5 Prozent. Mit den Änderungen durch das Bürgergeld sollen sogenannte Drehtüreffekte vermieden werden: Bisher war es oft so, dass Leistungsbezieher durch eine schnelle Vermittlung in Arbeit zwar aus der Arbeitslosenstatistik verschwanden - aber oft nur vorübergehend, weil die Stelle nur befristet war oder sie mit der Arbeit nicht zurechtkamen. Wäre es anders, würde sich das Argument bestätigen, dass der volkswirtschaftliche Schaden durch den Verzicht auf ein Bürgergeld um ein Vielfaches höher ist. Und vor allem schadet ein geschrumpfter Sozialstaat der Legitimität des Staates - er wird anfälliger gegen Populisten und untergräbt die Zukunftsfähigkeit.
Halten wir fest: Die Kassenwarte des Staates höhlen den Sozialstaat aus. Um die sozialen Folgen brauchen sie sich nicht zu kümmern. Das Füllen der Lücken wird an andere delegiert, vor allem an die ehrenamtliche Hilfe von Tafeln und Kleiderkammern. Deutschland hat ein Sozialbudget, das unter seiner Wirtschaftskraft liegt. Das soziale Netz wird immer grobmaschiger. Damit sind wir wieder bei unserer Debatte in Kronberg. Der Sozialstaat ist bereits ausgeblutet. Kein historisches Gesetz zwingt den Staat zu dieser Logik. Das Rezept ist nicht besonders originell. Es stammt aus den Lehrbüchern der Ökonomie. Der Wohlfahrtsstaat lässt Gesundheit und Lebenserwartung steigen, Armutsrisiken sinken und Teilhabechancen steigen. Das ist eine Frage der Wahl, nicht des Schicksals.